It’s never too late

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It’s never too late

Es ist nie zu spät, sich neu zu erfinden und es ist nie zu spät, sich alten oder neuen Leidenschaften hinzugeben. Sally Gabori ist nicht nur eine ungewöhnliche Frau und Künstlerin, sondern bester Beweis für diese Philosophie, denn Sally greift im Alter von 81 Jahren zu Pinsel, Farbe und Leinwand, und hinterlässt bis zu ihrem Tod 91jährig ein beeindruckendes Werk als Zeugnis ihrer Heimat und ihres Lebens, eines zu jenem Zeitpunkt nahezu in Vergessenheit geratenen Lebens. Diesem ungewöhnlich außergewöhnlichem Œuvre widmet sich zurzeit die Fondation Cartier und zeigt bis November dieses Jahres Werke der Aborigine-Künstlerin Mirdidingkingathi Juwarnda, so ihr Stammesname, der übersetzt „Delphin“ bedeutet.

Gabori gehört dem australischen Aborigine-Volk Kaiadilt an, welches seinen Ursprung im Golf von Carpentaria in Nordaustralien hat. Jahrtausendelang lebten die Kaiadilt in nahezu völliger Isolation und bis in die späten 1940er Jahre weiterhin nach traditioneller Lebensweise. So verwundert es kaum, dass Sally Gabori ihre neu entdeckte Liebe zur Malerei und ihr bis dahin unentdecktes Talent nutzte, um aus ihren Erinnerungen heraus ihre Heimat, die Natur und die Landschaften, sowie das Leben in ihren Bildern aufleben zu lassen. Beim Betrachten erster Gemälde erkennt der australische Künstler Melville Escott das alte Land. Einem Erkennen, das tief emotional verwurzelt ist, handelt es sich doch bei ihren Werken um ausdrucksstarke abstrakte Gemälde. Jedes Gemälde in seiner Abstraktion und seinem Farbenreichtum kann als eine Art Übersetzung ihrer ganz privaten und mythologischen Erfahrungen mit der Kultur der Aborigines gesehen werden. Ganz der Tradition ihres Stamms ergeben verbringt sie ihre frühen Jahre als Jägerin und Sammlerin in rein indigener Kultur. Missionare und eine schwere Dürre zwingen sie und ihre Familie in der 40er Jahren in ein Reservat auf Mornington Island umzuziehen. Es folgen Entwurzelung und Vertreibung, was wiederum unweigerlich Vergessen und Verlust zur Folge hat. Mit ihrer Kunst holt Gabori diese Erinnerung zurück an die Oberfläche. Bereits ihre ersten Gemälde entblößen eben dieses frühe Leben, ihre Erinnerungen an den Fluss, die Landschaften, die Schauplatz des Jagens waren. Diese in ihr tiefsitzenden Bilder erweckt sie farbenreich auf den Leinwänden, erkennbar für sie und für andere. Zum Beispiel komplexe Systeme steinerner Fischreusen, die in Untiefen rund um die Insel errichtet wurden. Die Erkenntnis darüber, ja das Wiedererkennen von alt Vergangenem, lässt ihren Enthusiasmus für die Malerei wachsen und ihre Produktivität ins Unermessliche steigern, sodass sie zur Vollzeitmalerin wird und sogar ihre Töchter einspannen muss. Ihre Produktivität kennt keine Grenzen, und in ihrer kurzen Karriere als Malerin hinterlässt sie ein Gesamtwerk von über 2000 Gemälden!

Schon zu Lebzeiten wurde ihre Arbeit in etlichen Einzel- und Gruppenausstellungen gewürdigt. Gekrönt mit der Einladung zur 55. Biennale als Vertreterin ihres Landes. Auch wenn sie zu den wichtigsten Figuren der zeitgenössischen Kunst in Ozeanien zählt, ist sie in Europa noch weitgehend unbekannt. Die Fondation Cartier trägt nun maßgeblich dazu bei, ihre Werke einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Das Gebäude der Fondation Cartier, hell, offen und transparent, umrahmt von einem eigens kreativ angelegten Garten, ist wie gemacht für die großen, farbigen und abstrakten Bilder, die ganz konkret Gabors Natur und Landschaftserlebnisse zeigen, die sie Zeitlebens auf ihrer Insel beobachtet hat, auch wenn der Zuschauer sie auf dem ersten Blick nicht sehen kann.

Wie in der abstrakten Kunst verwendet Sally Gabori bildnerische Gestaltungsmittel vom Gegenstand abstrahierend, zumeist vollkommen losgelöst von Natur und realen Gegenständen, als Ausdruck ihres individuellen Erlebens. Sicherlich basiert ihre Arbeit anders als bei westlich geprägten Expressionisten Dank ihrer Wurzeln auf anderen Traditionen, aber es ist erstaunlich zu beobachten, wie sehr sie zum selben Ergebnis führen. Orientiert an abstraktem Expressionismus in aller Konsequenz: Auflösung der Gegenständlichkeit, um nicht Gegenständliches, sondern Gefühle zur Darstellung zu bringen. Ihre Bilder erinnern an viele populäre Meisterwerke des Expressionismus, und doch sind es die Unterschiede, die beeindrucken. Mit ihrer bewussten Abkehr, Farben und Farbübergänge weichzuzeichnen, stellt sie eine Farbe in all ihrer Leuchtkraft neben eine andere. Trotzdem gelingen ihr sehr feine aber deutliche, räumliche und figurative Darstellungen. Dank der ihr genutzten Farbqualität. Denn gerade wegen des farblichen Qualitätskontrastes, wegen der hohen Farbreinheit gelangt Gabori zur höchsten Ausdrucksform, die die ganze Kraft an Authentizität in sich trägt.

Sowohl Schmerz als auch Freude vermitteln ihre Bilder: Schmerz über die Vertreibung aus ihrem Heimatland, über den Verlust ihrer Sprache, Freude wiederum über die Rückkehr in das Land ihrer Jugend, ins Land ihres Volkes. Mit außergewöhnlicher Kraft und dem Geschick einer großen Malerin lässt sie uns durch ihre Bilder an ihrer Welt teilhaben. Jedes Bild drückt ihre tiefe Liebe zu ihrer Heimat aus. Ihre Gemälde gehören zu den schönsten zeitgenössischen australischen Landschaftsbildern.

 

Informationen zur Ausstellung:

Mirdidingkingathi Juwarnda Sally Gabori

Du 3 juillet au 6 novembre 2022

Fondation Cartier pour l’art contemporain, 261 Boulevard Raspaol, 75014 Paris

Die erste große Ausstellung in der Fondation Cartier, die ausschließlich Sally Gabori in Europa gewidmet ist, gibt einen Einblick in das umfangreiche Werk der Künstlerin und bietet auch die Gelegenheit, in eine beeindruckende Archivarbeit über die Künstlerin, aber auch über die Kultur und die Traditionen der Kaiadilt einzutauchen. Die Ausstellung ist bis zum 6. November täglich außer montags in der Fondation Cartier pour l’art contemporain in Paris zu sehen.

by Violeta Berisha