KIRSCHBLÜTEN FÜR ALLE

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Damien Hirst weiß zu überraschen: seien es in Formaldehyd eingelegte Tierkadaver oder ein Totenkopf mit über 8000 lupenreinen Diamanten. Dieses Mal „schockierte“ er durch pure Ästhetik. Die erste große Soloausstellung „Cherry Blossoms“ des Künstlers in Frankreich, die man bis zum 22. Januar in der Fondation Cartier sehen kann, ist so unerwartet, dass man diese sehr emotionalisierenden Bilder nicht mit seiner Person in Zusammenhang gebracht hätte.

„Young British Artists“, zur Ausstellungseröffnung wie ein bunter Paradiesvogel kam: Blaue Haare, dazu ein rosafarbener Anzug. Alles im Zeichen der

Kirschblüte, wenn man es in der Manier von Umberto Eco ausdrücken würde. Mit Gemälden kannte sich Damien Hirst schon vorher aus, waren es zum Beispiel die sogenannten „Spot Paintings“, bei denen nicht mal ansatzweise ein Pinselstrich zu erkennen war und man sich schwer vorstellen konnte, dass sie überhaupt von menschlicher Hand geschaffen wurden. Und jetzt?

Überall liebliche Kirschblüten, die fast etwas Unschuldiges haben. Ein himmelblauer Hintergrund trifft auf zarte Äste mit rosafarbenen, weißen, grünen, orangefarbenen und dunkelblauen Tupfen, die zum Anbeißen schön sind. Wie zarte Baisers oder Makronen sitzen sie plastisch auf den Ästen und könnten auch perfekter französischer Pattisierkunst entspringen. Dieses Mal ist es nicht das aufgerissene Maul eines Riesenhais, der beim Betrachten körperliche Reaktionen hervorruft. Die Formate sind raumgreifend, denn es geht schließlich nicht um

Kirschblütenzweige, sondern um ganze Bäume. Doch tritt man etwas näher an die künstlerischen Träume, die aus Kirschblüten gemacht sind, kann der britische Künstler selbst hier seine brutale Ader nicht ganz
verbergen. Action-Painting mit wilden Klecksen gesellen sich zu massiven Pinsel-
strichen mit dicken Farbschichten, die zusammen ein recht buntes Schlachtfeld abbilden. Die monumentalen Leinwände, die
ganz dicht von leuchtenden Farben bedeckt sind und den Betrachter in eine endlose Blumenlandschaft einhüllen, bewegen sich grazil zwischen Figuration und Abstraktion:

„Bei den Kirschblüten geht
es um Schönheit, Leben und Tod. Sie sind extrem – sie haben fast etwas Kitschiges an sich. Sie sind dekorativ, aber der Natur entnommen. Sie handeln von der Sehnsucht und davon, wie wir die Dinge um uns herum verarbeiten und
in was wir sie verwandeln, aber auch von der verrückten visuellen Vergänglichkeit der Schönheit – ein Baum in voller Blüte
vor einem klaren Himmel. Es war so schön, sie zu machen, sich in meinem Atelier völlig in Farbe und Lack zu verlieren“, erklärt Damien Hirst. Ganze drei Jahre stecken in den wahrlich riesigen Kunstwerken, die nicht nur künstlerisch, sondern auch körperlich eine Herausforderung waren und die er im November 2020 beendete. Die komplette Serie umfasst 107 Leinwände, die jeweils in großformatige Einzeltafeln, Diptychen, Triptychen und sogar in ein Quadriptychon sowie Hexaptychon unterteilt sind.

Fast bekommt man den Eindruck, als wolle sich der kontroverse Künstler als einsamer, gelehrter Maler inszenieren, was unter anderem an den Filmen liegt, die eigens für die Ausstellung produziert wurden. In seinem an der Themse gelegenen Atelier sieht man Damien Hirst mit einer farbenbesprenkelten, alten Jeanshose, der an den „Cherry Blossoms“ arbeitet. „Jetzt malt er auch noch!“, hört man schon einige Kritiker reden.

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