Weiß ist seine Farbe

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Weiß, weiß, weiß sind alle seine Bilder, weiß, weiß, weiß ist alles, was er hat… Der italienische Künstler Croci Sisinni macht Bilder aus demselben weißen Kalkstein, aus dem Ostuni, die Kleinstadt mit griechischem Flair im süditalienischen Apulien, erbaut wurde. In Lecce geboren, ist die weiße Stadt mittlerweile seit vielen Jahren Wahlheimat, Zuhause und Gegenstand der künstlerischen Arbeit Croci Sisinnis.

Die auf einem Hügel gelegene, denkmalgeschützten Altstadt, „Ostuni Vecchia“ mit ihren weißen Häuserwänden, ihren geschwungenen, verschachtelten, labyrinthartigen Gassen, ihren vielen Torbögen, ihrem atemberaubenden Panorama, kleinen, aber feinen Läden, ihrem mediterranen Flair und ihrer malerischen Schönheit ist seine Muse geworden.

Doch bevor sie ihn küsste, kam im November 1969 neue Farbe in sein Leben: Mit seiner Familie machte sich Croci Sisinni auf nach Deutschland. Sisinni gehört zur ersten Generation von Einwandererfamilien, die Anfang der 70er-Jahre nach Deutschland kamen – ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Doch das Glück ist mit den Mutigen und Croci Sisinni hatte das doppelte Glück, mutig und jung zu sein. Er sog alles Neue wie ein Schwamm in sich auf, lebte sich schnell in der neuen Umgebung ein, fand Freunde und lernte den Charme rauerer, urbanerer Städte kennen und schätzen. An Wolfsburg hat der Künstler wunderbare Erinnerungen, er lebte gerne in der Autostadt und arbeitete damals im VW-Werk. In Wolfsburg hat er sein künstlerisches Talent entdeckt, mit dem Zeichnen angefangen, mit Farben experimentiert, sich mehr und mehr mit der Malerei beschäftigt. Doch Croci Sisinni wusste, wenn er sich als Künstler wirklich weiter entwickeln wollte, eine Kunstform erschaffen, die gänzlich seine wäre und die ihm durch und durch entspräche, musste er zurück zu seinen Wurzeln, zu den Erinnerungen seiner Kindheit: nach Apulien.

In der Altstadt von Ostuni eröffnete er die die Bottega d’Arte Graffi e Colori, die von außen mindestens so schön ist wie von innen und eins seiner beliebtesten Motive zeigt: ein Blumenfahrrad, das angelehnt an der Treppe vor dem Eingang seiner Bottega Menschen aus aller Welt Motiv steht. Überhaupt gleicht die ganze Stadt wahlweise einer gigantischen Hochzeitslocation oder einem Instagram-Paradies. Hier sitzt Croci Sisinni Tag für Tag und arbeitet. Früher hat er ausschließlich gemalt und Malerei in allen ihren Formen geliebt. Das tut er auch heute noch, aber jeder Mensch, davon ist der Künstler überzeugt, hat in seinem Leben ein bereits vorgezeichnetes Schicksal: seines war, die Malerei hinter sich zu lassen, um beim weißen Kalkstein anzukommen, der seine Leinwand geworden ist. Eines Nachts wurden ihm seine gesamten Bilder gestohlen, woraufhin er in ein tiefes, schwarzes, künstlerisches Loch fiel. Er verlor alle seine Farben. Jedes Mal, wenn er ein Bild mit oder in Farbe begann, gelang es ihm nicht, es fertig zu stellen. Das weiße Ostuni hat ihm also, wenn man so will, das Leben gerettet: von dem glatten, ebenen Kalkstein ausgehend, hat sich Croci Sisinni eine Technik erfunden, die es ihm erlaubt, Ostuni auf seinem Geburtsstein zum Leben zu erwecken, indem er die Blumen, die Gebäude, die Straßen, das alltägliche Leben in Süditalien, die Kultur, die Schönheit einfängt, mit einem Skalpell direkt in den Stein eingraviert und dort für immer verewigt.

Seine Motive sind Momente seines alltäglichen Lebens: da geht er zum Bäcker, diese ist seine Lieblingsstraße, dort wohnt doch der Bruder von soundso, hier hat mir die sympathische Signora die Haare geschnitten. Er gibt seinen Motiven ein Gefühl, macht sie sich zu eigen, weil er sie Tag für Tag (er-)lebt. Um seine Technik zu perfektionieren, bedient sich Croci Sisinni aller möglichen Instrumente: Bleistift, Werkzeug vom Zahnarzt, Nägel, Messer, Pinsel – alles, was ihm hilft, Bilder zu kreieren, die direkt aus dem Stein Ostunis hervorgehen und aus denen seine Liebe zu dieser weißen Stadt hervorgeht. Er hat eine Technik gefunden, die ganz allein seine ist, in der er Meister ist, aber trotzdem für immer Schüler bleiben darf. Und irgendwann, Stück für Stück, kamen auch die Farben in sein künstlerisches Leben zurück.

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